Die Sammlung Jacometti

Vom Bohemien in Montparnasse zum Verleger
der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts:
Nesto Jacometti

Zao Wou-Ki, ‚Embrasement spatial‘

Wir freuen uns, auf den folgenden Seiten ein Sammlungskonvolut aus seinem Nachlass von rund 80 Druckgraphiken anbieten zu können, die fast allesamt ab Mitte der 1950er Jahre bis 1971 aus dem von Ernesto Jacometti gegründeten Verlag L’Œuvre Gravée hervorgegangen sind. Nesto Jacometti gehört zu den wichtigen Verlegerpersönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts, die Pionierarbeit auf dem Gebiet der künstlerischen Druckgraphik leisteten. In der Sammlung befinden sich zahlreiche Drucke außerhalb gewöhnlicher Auflagen und Blätter, die mit Widmungen an Jacometti versehen sind. Diese Exemplare sind besonders spannend und exklusiv und unterstreichen das Verhältnis des Verlegers zu seinen Künstlerfreunden sowie die einzigartige Provenienz der Graphiken.

Geboren wurde Ernesto Jacometti am 24. März 1898 in Locarno als Sohn italienischstämmiger Mühlenbesitzer. Mit 25 heiratete er Maria Muheim, verließ seine Familie jedoch fünf Jahre später, um vom Tessin nach Paris zu ziehen. Hier tauchte er in die Welt der Bohème im Quartier de Montparnasse ein. Das Viertel hatte in den 1920er Jahren seinen Höhepunkt an künstlerischer Bewegung erreicht. Zahlreiche Poeten, Komponisten und Bildende Künstler ließen sich dort nieder. Jacometti schien mit seiner selbstsicheren und enthusiastischen Art perfekt in die Welt dieser Kreativen und Intellektuellen zu passen und knüpfte schnell Kontakte innerhalb der Künstlerkreise. Er begann für Kunstzeitschriften zu schreiben, veröffentlichte einen Gedichtband sowie die Künstlerportrait-Sammlung ‚Têtes de Montparnasse‘, und ab Mitte der Dreißiger Jahre arrangierte er Ausstellungen französischer Maler und Bildhauer in Belgien und den Niederlanden.
Der Krieg zwang den Bohemien in die Schweiz zurück. In Genf arbeitete er für verschiedene Radiosender und veröffentlichte weiterhin Artikel. Prägend für seine weitere Laufbahn waren die Begegnungen mit den Verlegern Albert Skira und Pierre Cailler. Mit Cailler arbeitete Jacometti nach Kriegsende ab Mitte der 1940er Jahre zusammen und tauchte in Paris erneut ins Künstlermilieu ein, um nach aufstrebenden Newcomern der Szene Ausschau zu halten. 1949 gründete er zusammen mit Pierre Cailler den Verlag La Guilde Internationale de la Gravure, in dem er die künstlerische Leitung übernahm. In wöchentlichem Rhythmus wurden Radierungen und Lithographien verlegt, mit dem Ziel, einen Überblick über das Kunstschaffen ihrer Zeit zu geben und Originalgraphiken aller wichtigen Künstler und Kunstströmungen zu erschwinglichen Preisen anbieten zu können. Die Unternehmung lief sehr erfolgreich, jedoch trennten sich die beiden Geschäftspartner im Jahr 1954 aufgrund vielfältiger Meinungsverschiedenheiten. Im selben Jahr erhielt Jacometti für seine Kunstkritiken eine Auszeichnung auf der Biennale von Venedig.

Bereits ein Jahr später gründete Jacometti sein eigenes Verlagswesen mit dem Namen L’Œuvre Gravée und knüpfte an seine Tätigkeit und an seine Kontakte in die Pariser und Schweizer Kunstszene an. Er arbeitete mit etwa zwanzig Künstler wie Zao Wou-Ki, Johnny Friedlaender, Max Ernst, Maurice Estève, Gino Severini, Massimo Campigli, Marino Marini oder Ossip Zadkine zusammen. Viele der Künstler verdanken Jacometti ihre Hinwendung zu druckgraphischen Techniken. Das gegenseitige Profitieren von Verleger und Künstler wird sowohl in den zahlreichen Widmungen an den Herausgeber auf Graphikexemplaren deutlich, als auch in den zahlreichen erhaltenen Text- und Photodokumentationen sichtbar.
Jacomettis persönliche Beziehung zu den Künstlern als Kunstkritiker und Organisator von Ausstellung in den Vorkriegsjahren, gepaart mit seiner Aufgeschlossenheit und Dynamik ebnete ihm den Weg als Verleger erfolgreich zu sein und so brachte er im Zeitraum von 1955 bis zum Verkauf seines Unternehmens im Jahr 1971 die beindruckende Zahl von 659 Graphiken sowie ca. 100 Sonderdrucke heraus.

Widmungskarte von Ossip Zadkine an Nesto Jacometti

Mitte der 1960er Jahre kehrte Jacometti ins Tessin zurück, nachdem er sich zuvor meist in Zürich und Paris aufgehalten oder fremde Länder bereist hatte. Sein Geschäftsstandpunkt verlagerte sich komplett in die Schweiz. Nesto Jacometti starb am 3. Dezember 1973 im Alter von 75 Jahren.
Die Verbundenheit zu seiner Heimat zeigt sich in der Schenkung eines Großteils seines Nachlasses an die Stadt Locarno. Das Museo Casorella brachte 1994 die zweibändige Publikation zum verlegerischen Werk und zur eigenen Sammlung Jacomettis heraus.

NESTO JACOMETTI


Mein Grossvater, ein Lebenskünstler!
Während meinen Besuchen in Locarno, wo er wohnte, war ich immer wieder im Bann seiner zahlreichen Anekdoten.
Oft organisierte er Partys, wo er, wie gewöhnlich, der strahlende Mittelpunkt war.
Er erzählte sowohl von seinen „mageren“ Jahren in Paris als von den
Freundschaften mit Künstlern, die damals entstanden.
In dieser Zeit legte er das Fundament für die spätere Karriere als Verleger.
In den fünfziger Jahren in Paris, während Nächten gefüllt mit Alkohol und Zigaretten, knüpfte er Kontakt zu damals unbekannten Künstlern.
Er war der Überzeugung, dass mit einem strukturierten Verkauf mehr Resultate erzielt werden können und so gründete er L’Œuvre Gravée.
Die Freunde von damals wie zum Beispiel Karel
Appel, Kees van Dongen, Ossip Zadkine, Zao
Wou Ki, Marino Marini und viele andere wurden
in wenigen Jahren von Nobodys zu erfolgreichen Künstlern. Ihr Erfolg war auch sein Erfolg.
Die Leidenschaft, mit der er über die Freunde und Kunst erzählen konnte, wird mir immer beibleiben.
Ein spezielles Erlebnis war sicher auch seine Wohnung in Locarno. Es war wie ein Museum, jeder Meter war bedeckt mit Bildern.
Niemals habe ich jemanden getroffen, der besser oder unterhaltsamer reden konnte, er war ein Meister des gesprochenen Wortes!
Als Grossvater war er kein Vorzeige-Opa.
Er hatte einen freien Geist, wobei er wenig Platz für die Familie und die damit verbundenen Pflichten hatte.
Friedlaender – Campigli – Pignon – Jacometti
Der letzte Satz, den er einige Tage vor seinem Tod zu mir sagte, lautete: „Junge, ich bedaure nichts, ich würde alles genau gleich machen.“
Er hat sein Leben gelebt – genossen!

Thomas Jacometti

Wir, das Haus Quittenbaum, freuen uns einen Teil der bedeutenden Privatsammlung Nesto Jacomettis innerhalb unserer Auktion der Modernen und Zeitgenössischen Kunst anbieten zu dürfen. Die über 80 Lose zeugen nicht nur von künstlerischer Qualität großer Namen des 20. Jahrhunderts, sondern auch von der persönlichen Beziehung, die Jacometti als Verleger zu seinen Graphikern pflegte.