Natur und Wahrheit – Die Möbekunst von Émile Gallé
„Welch edle Nuancen Gallé dem Herzen der Eiche entlockt, welch harmonischen Kontrast der Töne, wenn sich ein Blatt von der Farbe des Stammes abhebt.“ Mit diesen poetischen Worten lobt der mit dem Kunsthandwerker Emile Gallé (1846-1904) seinerzeit befreundet Marcel Proust das Einfühlungsvermögen und den Geschmack, mit dem der Künstler seine Möbel gestaltete. Der Dichter war hingerissen von der Subtilität der Arbeiten und besonders empfänglich für die Geheimnisse und Stimmungen, die diese in seinen Augen gleichsam wie Schichten umhüllten. So liegt die Faszination der Gallé-Möbel neben der einfallsreichen und qualitätvollen kunsthandwerklichen Ausführung sicher auch in dem Umstand begründet, dass diese – auf der pantheistischen Weltsicht ihres Schöpfers basierend – in ihrer künstlerischen Gestaltung letztlich tiefere Aussagen über die Natur und ihre Geheimnisse vermitteln sollen. Beeinflusst von der Bewegung des Symbolismus in Kunst und Literatur bezog Gallé seine Inspiration aus der eingehenden Beschäftigung mit der Pflanzenwelt. Eine Tatsache, die nicht überrascht, wenn man weiß, dass er zunächst Philosophie und Botanik studiert hatte und regelmäßig Artikel zum Gartenbau veröffentlichte. Die Funktion der Möbel spielte für Gallé letztlich dann auch eine eher untergeordnete Rolle. Für ihn waren diese zuallererst Bedeutungsträger für seine vom Symbolismus geprägten Naturtheorien. Ein Aspekt, der noch durch die Tatsache unterstützt wird, dass er die bildhaften Marketerien seiner Möbel oft noch zusätzlich durch Zitate aus Gedichten befreundeter Schriftsteller ergänzte.
Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entwickelten sich auch in Frankreich Vorstellungen von einer Möbelkunst, die sich von der hier bisher so erfolgreich gepflegten Kopie historischer Vorbilder lösen sollte. Was sich jetzt ausprägte, blieb allerdings von der englischen, deutschen oder österreichischen Reformbewegung mit ihren eher konstruktiv klaren und schlichten Möbeln so gut wie unberührt. Die Nähe zu den preziösen, kostbaren Möbeln des 18. Jahrhunderts sollte letztlich in den Schöpfungen der Möbelkunst des Art Nouveau spürbar bleiben. Gallé, der 1901 die Ecole de Nancy – neben Paris eines der Zentren des Art Nouveau – gegründet hatte, gilt heute zu Recht als die wohl auffallendste Gestalt dieser Bewegung. Er hat letztlich eine ganze Generation junger Künstler geprägt und er gab den Anstoß für eine Erneuerung der industriellen Kunst. Sein Einfluss auf den neuen Dekorationsstil verdankt nicht nur die Glaskunst, sondern auch die des Möbels viel. Der Bedeutung seiner Arbeiten war man sich schon zu Lebzeiten Gallés bewusst und viele seiner Ausstellungsstücke wurden bereits damals unter anderem für das Museé des Arts Décoratifs oder das Museé Luxembourg angekauft.
Im Jahr 1885 sollte Gallé damit beginnen neben seiner für Glasarbeiten berühmten Manufaktur auch luxuriöse Möbel herzustellen und zu diesem Zweck eine Reihe erfahrener Kunsttischler, Marketerie- Spezialisten und Holzbildhauer zu verpflichten. Ein Widerspruch zwischen der an seinen Möbeln zum Ausdruck kommenden Sehnsucht nach ursprünglicher, elementarer Naturvorstellung und einer modernste Fertigungsmaschinen einsetzenden Produktionsform bestand für ihn dabei nicht. Logik der Form, Sensibilität sowie Lebendigkeit der Gestaltung waren für Gallé die wichtigsten Merkmale seiner Möbel. Die Entwürfe für Formen und Dekore sollten dabei stets der Funktion des jeweiligen Objekts angepasst sein. Im Laufe seiner langjährigen Arbeit mit dem Werkstoff Holz entwickelte er dabei seine speziellen Ansichten über die Gestaltung von Möbeln, die er in dem ausführlichen Artikel „Le mobilier contemporain orné d’après la nature“ in der Revue des Arts Décoratifs im Jahr 1900 veröffentlichte.
Für Gallé bedeutet Modernität dabei nicht die Einführung stilistischer Novitäten oder lediglich hübscher Äußerlichkeiten ohne tieferen Gehalt und Sinn, wie er hier schreibt, sondern sein Bestreben war es, Möbel nach den Bedürfnissen des modernen Menschen zu gestalten. Die Verbindung der Begriffe Wahrheit und Schönheit bildete für Gallé dabei die Grundlage zur Gestaltung eines Möbels. Schönheit könne man seiner Meinung nach erreichen, wenn man hier mit viel Einfühlungsvermögen die Gesetze des Wachstums der Natur, ihre Strukturen und grundlegenden Prinzipien beachtet, denn die Natur biete in ihrer Vielfalt unendliche Möglichkeiten. Die strukturellen Grundelemente der Möbel sollten dabei durch Details nicht überdeckt, die Verbindungsstellen nicht kaschiert, sondern naturgetreu modelliert werden. Laut Gallé solle man, um dieses Problem zu lösen, einmal beobachten, wie die Zweige einer Pflanze aus dem Stengel herauswachsen, Blätter am Zweig ansetzen oder wie die Blüte mit dem Stiel verbunden ist. Möbel, die nach diesen Richtlinien entworfen werden, seien ein Spiegel des Lebens und stellten die Wahrheit der Natur über jeden künstlichen Eklektizismus. In den glatten Oberflächen seiner Möbel wiederum sah Gallé gleichsam eine unbemalte Leinwand, auf der er florale Themen durch die raffinierte Kombination verschiedenfarbiger Hölzer darstellen konnte. Er begeisterte sich dabei besonders für die Techniken der Marketerie und verwendet diese mit großer Phantasie in einer bisher nie da gewesenen Qualität. Zudem ergänzte er diese teilweise noch zusätzlich durch Einlagen aus Glas oder anderen Materialien.
Der Schriftsteller und Symbolist Graf Robert de Montesquiou schreibt im sechsten Kapitel seines Werkes „Les Roseaux Pensants“, welches er Gallé gewidmet hatte, zu diesen Marketerie-Bildern: „Von jeder Linie einer Maserung fließt eine neue Harmonie in die Augen. Eine kleine Vertiefung des Geländes, der Lauf eines Baches, eine kleine Unregelmäßigkeit der Maserung, die von einer Verästelung stammen könnte, wird zur Wolke. Die Marqueterie vervollständigt das Bild. Man ahnt, man weiß um die Geheimnisse, die das Herz eines gefällten Baumes einem Kunstschreiner wie Gallé anvertraut; das Wesen eines Baumes spricht durch ihn.“
Für Philippe Garner, einem profunden Kenner von Emile Gallés Werk, war der Künstler letztlich ein Dichter, der Glas und Holz anstelle von Worten benutzte. Sein Ziel war es mit seinen Möbeln etwas zu schaffen, das man berühren und tasten konnte, dreidimensionale Kunstwerke, die ebenso ergreifend und bewegend und ebenso reich an Nuancen waren, wie Gedichte.
Dr. Marcus Oertel