Biografie
Als einer der ersten Glasbläsermeister überhaupt reiste Lino Tagliapietra 1979 in die Vereinigten Staaten, um dort an der Pilchuck Glass School nördlich von Seattle zu unterrichten. Seit Jahrhunderten wurde das Wissen um Herstellungsmethoden und künstlerische Techniken in Murano aus Angst vor Konkurrenten streng gehütet. Lino Tagliapietra sah in seinem Austausch mit amerikanischen Studioglaskünstlern jedoch keine Gefahr, sondern vielmehr eine große Chance für die Glaskunst, mit der er sich beschäftigte seit er elf Jahre alt war. Bei Archimede Seguso hatte der 1934 in Murano geborene Tagliapietra 1946 als Garzonetto, als Lehrling, begonnen, 1955 wechselte er zu Galliano Ferro, wo er als Meister vor allem für die Herstellung von dünnwandigen Bechern und Pokalen zuständig war. Außerdem arbeitete Tagliapietra, der 1959 die Schwester des berühmten Meisters Checco Ongaro heiratete, in den sechziger Jahren unter anderem für Firmen wie Venini und La Murrina, wo er auf höchstem Niveau die Ideen anderer realisierte. Die Mittagspausen und Abendstunden nutzte der Unermüdliche für Experimente und eigene Entwürfe, die jedoch erst einmal nicht in Serie produziert wurden. Seinen Durchbruch als Glaskünstler erreichte Tagliapietra Ende der siebziger Jahre, nachdem er von der Firma Effetre International als Meisterglasbläser, Chefdesigner und Leiter der Produktion in Personalunion berufen worden war. Neues Selbstbewusstsein verschafften ihm seine Lehraufträge in den USA seit 1979. „A fabulous personality", kündigte ihn Benjamin Moore in Pilchuck an, „speaks no English but will be great with the students, he has an explorative nature. Does very good work of his own, very good taste, a very unique and rare Venetian glass maker." Ohne ein Wort Englisch zu können, brachte der erfahrene Meister den Absolventen der Pilchuck School traditionelle Techniken der Muraneser Glaskunst nahe und gab der amerikanischen Studioglas-Bewegung neue Impulse. Im Gegenzug motivierten ihn die Glasdesigner James Carpenter, Dale Chihuly, Dan Daily und Benjamin Moore, die Glasbläserei als Kunst und kreatives Experimentierfeld zu betrachten. Besonders großen Einfluss auf seine eigene Entwurfstätigkeit hatte Anfang der achziger Jahre auch der renommierte niederländische Glaskünstler Andres Dirk Copier, mit dem er gemeinsam einige Vasen in Incalmo-Technik und mit Mezza filigrana-Dekoren realisierte. Seit Mitte der neunziger Jahre konzentriert sich Tagliapietra ausschließlich auf eigene Entwürfe. Zu seinen markantesten Arbeiten gehören die Vasen Madras und Batman, deren Oberflächen nachträglich beschliffen wurden. Außerdem schuf er großformatige Mosaikglasbilder und 1998 die Installation Flying Boats, bestehend aus in der Luft schwebenden, langgestreckten farbig gemusterten Gläsern, die Tagliapietra in Anlehung an die Silhouetten einfacher Kanus und Wikingerboote gestaltete. Bei amerikanischen Glasliebhabern sind seine Werke besonders populär und begehrt. Ihm zu Ehren richtete das Glasmuseum in Tacoma 2008 eine umfassende Retrospektive aus.